Die Weltwoche, 20. Januar 2010. Von Franziska K. Müller
Bis zu fünfzig Prozent aller häuslichen Attacken gehen auf das Konto der Frauen. Die Zerstörungswut bleibt ohne Konsequenzen, da die Männer ihre Opferrolle lieber verheimlichen. Und Feministinnen pflegen das Bild der Frau als selbstlose Heilige, die zu Gewalt nicht fähig ist.

Vor einigen Wochen fuhr eine Zürcherin den Wagen ihres Liebhabers zu Schrott. Der Klassiker jedes Rosenkrieges forderte nebst Blechschaden auch einen Schwerverletzten, der am Lenkrad der Limousine sass. In Adliswil erwürgte eine einbeinige Frau vor zwei Monaten ihren Freund. In Basel tötete eine 52-Jährige ihren Partner mit einem Messerstich ins Bein, und in Bern wurde Edwald C., nachdem eine Kaffeekanne auf seinem Schädel zertrümmert wurde, mit lebensbedrohlichen Verletzungen in die Intensivstation eingeliefert.

Nur selten endet weibliche Verärgerung in Liebesbeziehungen mit Toten, aber die Liste tätlicher Angriffe, ausgeführt durch Frauenhand, lässt sich beliebig fortsetzen. Im Kanton St. Gallen gingen 39 Prozent aller polizeilich registrierten Übergriffe im Bereich der häuslichen Gewalt auf das Konto von Frauen (2008), in Zürich waren es rund 25 Prozent. Gesamtschweizerisch fehlt es an Zahlen, aber die Dunkelziffer von weiblichen Attacken, die nicht zur Anzeige kommen, wird als sehr hoch eingeschätzt. Mittlerweile gehen die Experten davon aus, dass in der Schweiz pro Jahr nicht nur Zehntausende von Frauen durch ihren Partner misshandelt werden, sondern – je nach Quelle ebenso viele Männer betroffen sind.

Bisher glaubte man, Frauen würden handgreiflich, um sich gegen prügelnde Ehemänner und Liebhaber zu verteidigen. «Das akzeptierte Klischee, dass Frauen immer die Opfer und Männer immer die Täter sind, ist falsch», sagt der deutsche Sozialwissenschaftler Bastian Schwithal. Im Rahmen seiner Dissertation («Weibliche Gewalt in Partnerschaften») analysierte der 33-Jährige über hundert internationale Untersuchungen und ist zum Schluss gekommen: «Von Australien über Kanada bis Südafrika: Frauen sind in Beziehungen genauso gewalttätig wie die Männer.» Für den deutschsprachigen Raum gilt: Nur bei rund einem Viertel aller Übergriffe handeln die Frauen in Notwehr. Bei der Hälfte aller Übergriffe üben beide Partner Gewalt aus. In 25 Prozent der Fälle agieren nur die Frauen gewalttätig, und die Verletzungen sind – anders als bisher angenommen nicht nur harmlos.

«Riesenproblematik»

Bei der Zürcher Opferberatungsstelle für gewaltbetroffene Jungen und Männer beobachtet man seit einigen Jahren einen Anstieg bei den physischen und psychischen Übergriffen durch Partnerinnen: Das Spektrum reiche von Schlagen, Beissen, Boxen, Kratzen, An-den-Haaren-Reissen bis zu Einschüchterungsversuchen, Morddrohungen, Stalking zu Hause und am Arbeitsplatz sowie Sachbeschädigungen. Als Tatwaffen werden Messer und Haushaltsgegenstände genannt. Es gehe nicht darum, die beiden Themen gegeneinander auszuspielen, sagt Bastian Schwithal. Die Existenz weiblicher Gewalt anzuerkennen, heisse keineswegs, die Bedeutung männlicher Gewalt zu verharmlosen. «Aber nur durch einen ehrlichen Vergleich können Strategien entwickelt werden, die angesichts der Riesenproblematik längst fällig wären», sagt Schwithal.

 

Belustigung und Unglaube

Zwar existieren Dutzende von Institutionen und Internetplattformen, die den geschundenen Männern mit Rat zur Seite stehen wollen. «Vorausgesetzt, die Betroffenen geben zu, dass es zu Hause ab und zu Prügel setzt», sagt Oliver Hunziker, Initiant des ersten Schweizer Hauses für geschlagene Männer («Zwüschehalt»). Es wurde Anfang Dezember eröffnet und sollte eigentlich aus allen Nähten platzen, findet Hunziker, der auch als Präsident des Vereins verantwortungsvoll erziehender Väter und Mütter (VeV) agiert. Aber da die Männer nicht zu ihrem Problem stehen wollen, war bisher nur ein Zimmer vorübergehend belegt.

Fliegende Espressomaschinen, jahrelanger Sexentzug und raffinierter Psychoterror: «Die meisten Betroffenen werden als Witzfiguren verspottet, wenn sie von den desolaten Verhältnissen in den eigenen vier Wänden erzählen», sagt Hunziker. Belustigung im Bekanntenkreis und Unmutsbekundungen durch ungläubige Polizeibeamte seien übliche Reaktionen, wenn Männer von ihrem Martyrium erzählten. Dabei erreichen Hunziker verzweifelte Telefonate wie jenes kurz vor Weihnachten beinahe täglich: Der Schichtarbeiter berichtete, seine Frau verfolge ihn seit Monaten mit aggressivem Verhalten. Sei am Ende des Monats nur noch wenig Geld in der Haushaltskasse, gebe es für ihn – dessen gesamter Lohn auf ihr Konto gehe nichts mehr zu essen. Wolle er tagsüber schlafen, weil er um sechs Uhr von der Arbeit zurückkehre, reisse sie die Vorhänge auf, zerre die Bettdecke weg und übergiesse ihn mit kaltem Wasser. Die Steigerung der Attacken erfolgte, als sie ihm im Schlaf ein Paar Holzschuhe an den Kopf warf. Er sei wutentbrannt aufgesprungen, habe sie an den Handgelenken gepackt und geschüttelt. Resultat? Drei Minuten später stand die Polizei im Haus, er kassierte eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt.

Auch Roland B. geriet mit dem Gesetzgeber in Konflikt, seit ihn seine afrikanische Ehefrau mit Schwung in den Strassenstaub warf und ihm zwei Zähne ausschlug. Sie habe seine Beschimpfungen als Bedrohung wahrgenommen und sich gewehrt, erzählte sie der Polizei. Seither darf sich der bisher unbescholtene Soziologe weder der Ex-Ehefrau noch dem gemeinsamen Sohn nähern. Extrembeispiele? «Keineswegs», sagt Hunziker. «Die Behörden stehen meist auf der Seite des vermeintlich schwachen Geschlechts.»

Bild der unterdrückten Frau

Mehr als hundert Forschungsberichte, empirische Studien und vergleichende Analysen in kriminologischen, soziologischen, psychologischen und medizinischen Fachzeitschriften zeigten in den vergangenen Jahren auf, dass in Beziehungen die Gewalt zu gleichen Teilen von beiden Partnern ausgeht. Die Studien stimmten in ihren Erkenntnissen so deutlich überein, dass die Fachwelt an den Verhältnissen keine Zweifel mehr hegt. Aber obwohl die Gewaltbereitschaft der Frauen bereits seit den achtziger Jahren gründlich erforscht wird, das weibliche Aggressionspotenzial, die Risikofaktoren und Konsequenzen bekannt sind, herrscht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein verfälschtes Bild von weiblicher Gewalt gegenüber Männern.

Der amerikanische Psychologe Don Dutton befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Thema. Den Grund, wieso die tonnenschweren Fakten bisher unter den Teppich gekehrt wurden, sieht er im Umstand, dass die Ausübung männlicher Gewalt lange Zeit als Patriarchatsprivileg eingeordnet wurde und somit die These von der unterdrückten Frau stützte. «Alle Daten und Beweise, die der genderfeministischen Ideologie nicht entsprachen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten verworfen, banalisiert oder weggeredet», sagt auch der deutsche Generationenforscher Gerhard Amendt von der Universität Bremen. Resultat: «In der Öffentlichkeit ist das Thema tabu, und auf der politischen Ebene wird es mehrheitlich ignoriert.» Die Frau als selbstlose Heilige, die zu keinen Aggressionen und keiner Gewalt fähig sei, entspreche einem veralteten Bild, dessen sich der konservative Feminismus bei der unliebsamen Thematik erstaunlicherweise gern bediene. «In diesem Sinn müssen und dürfen gewattätige Geschlechtsgenossinnen keine Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen, weil man per se davon ausgeht, dass sie immer hilflos und unschuldig sind», sagt Amendt. Die prügelnden Frauen verstossen also nicht nur gegen allgemeingültige Normen und die herrschende Moral, sondern auch gegen die geltende Geschlechterordnung, wonach Gewalt nicht weiblich sein darf. Mit schlimmen Konsequenzen für die Frauen, so sind sich die Experten in der Zwischenzeit einig: Aufgrund einer jahrzehntelangen Banalisierung fehlt es heute an Diagnostik, Beratungsstellen und einem spezialisierten Therapieangebot für gewaltausübende Frauen.

Reflexion über das aggressive Verhalten findet somit nicht statt, und mit einem allzu schlechten Gewissen – bekanntlich dem ersten Schritt auf dem Weg zur Besserung – halten sich die Frauen auch nicht unbedingt auf. In einer amerikanischen Studie von Charles E. Corry und Martin S. Fiebert («Controlling Domestic Violence Against Men», 2002) wurden die Teilnehmerinnen gefragt: «Wieso schlagen Sie Ihren Partner?» Die unbeschwerten Antworten lauteten: «Er hört mir nie zu.» – «Er ignoriert meine Bedürfnisse.» – «Ich wollte seine Aufmerksamkeit gewinnen.» Australierinnen antworteten auf die gleiche Frage lapidar: «Weil er mir auf die Nerven ging.»

Die Forscher wollten es genauer wissen: «Haben die Frauen keine Angst, dass sich die Gepeinigten wehren könnten», und: «Wieso glauben Sie, schlagen viele Männer nicht zurück?» Die Antworten fielen listig aus. Fast ein Viertel der Befragten antwortete: «Die meisten Männer wurden so erzogen, dass sie Mädchen nicht schlagen dürfen: So gesehen ist das Gefahrenpotenzial gering.» Immerhin fanden 24 Prozent der Frauen: «Männer können sich gegen Schläge schützen, und somit habe ich keine Angst, ihn zu verletzen, wenn ich ihn verprügle.» 13 Prozent betrachteten ihr unzivilisiertes Verhalten gar als feministische Aktion: «Wenn Frauen und Männer tatsächlich gleichberechtigt sein wollen, müssen Frauen fähig sein, Ärger in physische Aggression umzuwandeln.»

«Männer sind selber schuld»

Die Gründe, warum Frauen ausser Rand und Band geraten, sind ebenso vielfältig wie die verschiedenen Ausdrucksformen: Der Schweizer Strassenarbeiter Matthias L. wurde Mitte Januar Opfer seiner jungen Ehefrau. Sie beschuldigte ihn, eine Fotografie aus dem Büchergestell entfernt zu haben. Zuerst fing er sich ein paar Kopfnüsse ein, dann boxte sie ihm ins Gesicht. Als verbale Morddrohungen gegen seine Mutter dazukamen, alarmierte der 26-Jährige die Polizei. Nach sechsstündiger Wegweisung aus der Wohnung durfte die Gattin zurückkehren, und der Ehemann floh erneut. Über diesen Fall kicherte die Schweiz. Die daraufhin durch den Blick angeregte Umfrage («Wird das Problem von schlagenden Frauen unterschätzt?») entschied zugunsten der Frauen. «Männer sind selber schuld», lautete eine häufig angeklickte Antwort. Oliver Hunziker findet es überhaupt nicht lustig. «Die gegenwärtige Situation männlicher Opfer ähnelt derjenigen von vergewaltigten und misshandelten Frauen vor dreissig Jahren. Auch sie mussten damals gegen Verleumdung und Ignoranz kämpfen.»

Grundsätzlich gehen die Forscher davon aus, dass physische und psychische Übergriffe quer durch alle Schichten stattfinden und wenig mit dem Bildungsgrad oder dem Einkommen zu tun haben. Vor allem das jugendliche Alter, die Art der Beziehung und die Beziehungsdauer sind Risikofaktoren für eine friedliche Koexistenz in den eigenen vier Wänden. So zeigten verschiedene Untersuchungen, dass die meisten Beziehungen, in denen beide zuschlagen, kinderlos sind, noch keine fünf Jahre dauern und die Partner in diesen Beziehungen unter dreissig sind. Wenn Frauen handgreiflich werden, entladen sich Eifersucht, das Bedürfnis nach Macht und Kontrolle, allgemeine Frustration und Stress. Gerhard Amendt: «Die häufigsten Motive für Gewalthandlungen sind Zwang, Ärger und der Wunsch, den Partner für schlechtes Benehmen, besonders für Untreue, zu bestrafen.» Trennung und Scheidung gelten als besonders hohe Risikofaktoren für partnerschaftliche Aggressionen (Corry/Fiebert, 2002).

Angst um die Kinder

Daraus ergibt sich ein Teufelskreis. Oliver Hunziker beobachtet, dass viele Männer in Gewaltbeziehungen ausharren, «weil sie, im Wissen darum, in Sorgerechtsstreitigkeiten meist den Kürzeren zu ziehen, Angst um ihre Kinder haben und diese nicht allein zurücklassen wollen». Auch im Bereich der psychischen Misshandlung agieren die Schweizer Frauen facettenreich: Dauerhafte verbale Attacken, die wiederholte Demütigung des Partners in der Öffentlichkeit, Wegsperren, aber auch monatelanger Sexentzug und falsche Aussagen, die bei der Polizei deponiert werden, gehörten dazu, sagt Hunziker.

Die häusliche Gewalt schliesst per Definition die beiden Kategorien – körperliche und seelische Verletzung – ein. In beiden Bereichen wird zwischen leichten, mittleren und schweren Formen unterschieden. Schubsen, Boxen, Beissen und Treten sind – auch international betrachtet – die favorisierten mittelschweren Bestrafungsmethoden der Frauen. An oberster Stelle steht jedoch: Objekte werfen. Ein Viertel aller Männer findet nichts dabei, wenn ihnen hin und wieder Ziergegenstände und Bücher um die Ohren fliegen. Vorausgesetzt, die Objekte verfehlen ihr Ziel.

Die Treffsicherheit der Frauen sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dies gilt auch für den Bereich «Tatwaffen aller Art», wie in der amerikanischen Untersuchung von Corry/Fiebert festgehalten wird. «Ist ein Streit absehbar, entfernen Sie im Vorfeld alle Wurfgegenstände im Haus, und, wichtig: Vergessen Sie nicht, als Wanddekorationen gedachte Waffen wie Schrotflinten, Samuraischwerter oder Krummdolche sorgfältig zu verstecken», so der praktische Ratschlag der Experten.

Vor schweren Gewaltdelikten schreckten Frauen nicht zurück, kommt auch Bastian Schwithal zum Schluss. Weltweit schlagen sie ebenso hart zu wie die Männer, fuchteln tendenziell sogar etwas häufiger mit Schusswaffen herum und verletzen ihre Intimpartner mit Messern und Wurfgeschossen. Als bevorzugte Kampfzone gilt der gesamte Küchenbereich, hält die ehemalige britische Frauenhausleiterin Erin Pizzey in einer Untersuchung fest. In den Asservatenkammern türmen sich Kaffeemaschinen, Mixer und Pfeffermühlen, Weinflaschen, Nudelhölzer und Bratpfannen, die durch die Luft flogen oder als Werkzeuge benutzt wurden. Zwischen Kühlschrank und Herd lauern viele Gefahren: Scheren, Fleischhammer, heisses Wasser und siedendes Öl. Der strenge Rat von Pizzey an die gefährdete Männerwelt: «Eskaliert die Situation, verlassen Sie sofort die Küche, und betreten Sie unter keinen Umständen das Schlafzimmer: Denn auch dort kann es zu ungeahnten Übergriffen kommen.»

«Es besteht Handlungsbedarf», sagt Dori Schaer-Born, Präsidentin der Berner Fachkommission für Gleichstellungsfragen. Im vierten Gewaltbericht («Wenn Frauen gewalttätig werden: Fakten contra Mythen», 2006) hält die Kommission fest, dass sich die geschlechterabhängige Gewaltforschung auch in der Schweiz von alten Perspektiven und Rollenvorstellungen lösen müsse. «Im besten Fall entstehen neue Weiblichkeitsbilder, die mit den gängigen Stereotypen nichts zu tun haben. Aber auch die betroffenen Männer müssen ihren Widerwillen gegenüber dem unliebsamen Opferstatus überwinden und ihr betretenes Schweigen brechen», sagt Schaer-Born. Um die Debatte von gegenseitigen Schuldzuweisungen zu befreien und zu konstruktiver Arbeit zu gelangen, seien in der Schweiz sorgfältige Analysen der bisherigen Entwicklung und eine Verbesserung der Forschung nötig. Zudem müsse ein adäquates Hilfsangebot für gewaltausübende Partnerinnen geschaffen und die fachliche Kompetenz der bestehenden Institutionen für männliche Gewaltopfer überprüft werden.
Die angeregte Investition in präventive Angebote lohnt sich womöglich auch angesichts der staatlichen Kosten, die durch häusliche Gewalt verursacht werden: Sie werden gesamtschweizerisch jährlich auf über 400 Millionen Franken geschätzt.