Tages-Anzeiger vom 2. Juni 2009. Von Thomas Hasler

Jahrelang soll ein Vater seine Tochter misshandelt und sexuell missbraucht haben. Dann widerruft sie alle Vorwürfe. Doch seine Existenz ist zerstört. Jetzt droht der jungen Frau eine Verurteilung.

Warum erhebt ein 15-jähriges Mädchen die wohl schwersten Vorwürfe, die man gegen den eigenen Vater erheben kann? Die Frage muss offen bleiben. Denn der Blick in die Akten bleibt verwehrt. Und warum dann der Widerruf aus heiterem Himmel? Auch diese Frage bleibt offen. Denn der Prozess gegen den Vater im vergangenen Sommer war – aus nicht mehr rekonstruierbaren Gründen – erst gar nicht auf der Gerichtsliste aufgeführt, welche die Gerichtsreporter erhalten.

Der heute 43-jährige Vater war am 29. März 2007 verhaftet worden. Seine Tochter – bei Verwandten aufgewachsen und von den Eltern erst im März 2000 in die Schweiz geholt – hatte behauptet, sie sei ab April 2000 von ihrem Vater wiederholt vergewaltigt, sexuell genötigt und in sexuelle Handlungen einbezogen worden. In den folgenden sechseinhalb Jahren sei sie auch mehrmals pro Woche meistens aus nichtigem Anlass und teilweise während Stunden wahlweise mit Fäusten, Händen, Gürtel, Baseballschläger, Kochkelle, Hausschuhen geschlagen, an den Haaren gerissen, ihr Kopf gegen die Wand geschleudert und mit Fusstritten traktiert worden. In den Unterlagen ist auch von Verbrennungen am Bauch die Rede.

Trotz Widerruf weiterhin in Haft

14 Monate nach der Verhaftung, am 11. Juni 2008, sollte dieser äusserst gravierende Fall von häuslicher Gewalt vor Gericht verhandelt werden. Unangekündigt erschien auch die Tochter zum Prozess. Und noch ehe dieser richtig angefangen hatte, war er auch bereits wieder zu Ende. Aus heiterem Himmel widerrief die Schülerin im Saal alle ihre Aussagen. An eine Verurteilung war nicht mehr zu denken.

Aber auch ein Freispruch kam nicht in Frage. Denn die zentrale Frage war noch nicht beantwortet: Wann hatte das Mädchen gelogen? Als sie die Anschuldigungen erhob oder als sie die Vorwürfe zurückzog? Solange das nicht geklärt war, konnte der Vater auch nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werden.

«Sehr differenzierte» Gutachten

Staatsanwalt Markus Oertle befragte noch einmal die Tochter und mehrere Zeugen. Und er gab ein Glaubhaftigkeitsgutachten in Auftrag. Es sollte klären, ob die Angaben des Mädchens in der Strafuntersuchung glaubhaft waren. Schliesslich lag das gut 100-seitige, laut Oertle «sehr differenzierte» Gutachten vor. Es bestätigte die schlimmsten Befürchtungen: Die Schilderungen der Sexualdelikte enthielten starke Übertreibungssignale – was die Glaubhaftigkeit der Aussagen stark einschränkte.

Gleiches galt für die angeblich stundenlangen körperlichen Misshandlungen. Auch die Aussagen zu diversen Schlägen mit Gegenständen bezeichnete die Gutachterin als lebensfremd, nicht nachvollziehbar, oder in der geschilderten Häufigkeit und Regelmässigkeit als übertrieben.

Am 3. November 2008, 19 Monate nach seiner Verhaftung, wurde der Vater aus der U-Haft entlassen. Anfang Januar 2009 sistierte Oertle einen grossen Teil des Strafverfahrens. Gleichzeitig verfasste er eine neue Anklageschrift. Sie enthielt noch diverse Körperstrafen, deren Schilderung durch das Mädchen laut Gutachten einen «realen Erlebnishintergrund» hatte.

Vater zahlte Tochter 1000 Franken Genugtuung

Der Vater hatte nicht bestritten, seine Tochter wiederholt geohrfeigt oder an den Haaren gerissen zu haben. Deswegen war der Fall überhaupt öffentlich geworden: Ende Oktober 2006 war das Mädchen in der Schule zusammengebrochen und ins Triemlispital gebracht worden. Schwellungen an Kinn und Unterarm, Bluterguss am Gesäss und kleinere Verletzungen an der Lippe wurden festgestellt. Wegen einfacher Körperverletzung und mehrfacher Tätlichkeiten wurde der Mann vom Bezirksgericht kürzlich zu einer bedingten Geldstrafe von 2700 Franken (90 Tagessätze zu 30 Franken) verurteilt. Zudem muss der Vater der Tochter 1000 Franken Genugtuung zahlen.

Für die Tochter, heute knapp 18-jährig, die in den letzten Jahren in diversen sozialpädagogischen Einrichtungen lebte, könnte die ganze Angelegenheit einiges teurer zu stehen kommen. Der 43-Jährige hat wegen der langen Untersuchungshaft seine Stelle als orthopädischer Schuhmacher mit einem Monatseinkommen von etwa 8000 Franken verloren. Die unrechtmässig erlittene Haft muss ihm entschädigt werden. Er hat – ohne Familie – die Schweiz verlassen, lebt von seiner Pensionskasse und ist ohne Aussicht auf Arbeit, kurz: Er hat seine ganze Existenz verloren.

Teure Rechnung für das Mädchen?

Nach Angaben seines Verteidigers werden Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche sicher in sechsstelliger Höhe geltend gemacht werden. Darüber entscheiden wird die Staatsanwaltschaft. Wird das alles die Tochter bezahlen müssen? Laut Strafprozessordnung können die Kosten «dem Verzeiger ganz oder teilweise überbunden (werden), wenn er seine Anzeige in verwerflicher oder leichtfertiger Weise erstattet hat». Bereits angelaufen ist ein Strafverfahren gegen die Tochter bei der Jugendanwaltschaft. Tatvorwurf: falsche Anschuldigung und Irreführung der Rechtspflege. (Tages-Anzeiger)

 

 

Kommentar des VeV

Es ist nur wenige Tage her, dass wir einen solchen Fall aus Deutschland hier publiziert haben.

Und schon folgt der nächste Fall – diesmal aus der Schweiz.

Die Hysterie welche heute rund um das Thema Missbrauch herrscht, führt zu unhaltbaren Zuständen. Je länger je mehr werden Missbrauchs- und Gewaltvorwürfe zum Joker in jedem beliebigen Rechtsstreit. Ob im Arbeitsrecht, Eherecht, Scheidungsrecht, Familienrecht, oder wo auch immer, stets wenn eine Frau den Vorwurf des Missbrauchs oder der Gewaltanwendung erhebt, wird aus einem vorher fairen Verfahren rasch ein relativ undurchschaubares Glücksspiel. Zumindest für den betroffenen Mann, denn der kann sich in den allermeisten Fällen kaum gegen die herrschende, gesellschaftliche Vorverurteilung wehren, sondern steht diesen, oft frei erfundenen Vorwürfen hilflos gegenüber. Solange unsere Gesellschaft an das Bild vom männlichen Täter und dem weiblichen Opfer glaubt, solange werden gewisse Frauen, respektive deren clevere Rechtsvertreterinnen diese Waffe benutzen.

Über all dem Leid welches dem betroffenen Mann angetan wurde, geht ausserdem leicht vergessen, welch verheerende Folgen diese Haltung für die wahren Opfer von Missbrauch hat.

Sie laufen nämlich Gefahr, immer unglaubwürdiger zu werden, da der Missbrauch mit dem Missbrauch mittlerweile dermassen zugenommen hat, dass die echten Opfer darin beinahe untergehen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Gesellschaft bald vernünftiger wird und lernt, dass Gewalt und Missbrauch menschliche Schwächen sind, und nicht etwa bloss männliche Fehler!