Baselland lanciert Pilotprojekt gegen häusliche Gewalt speziell für Frauen
Basler Zeitung; 24.11.2008, Michael Rockenbach 

Laut Statistik werden die Frauen immer gewalttätiger. Baselland reagiert als erster Kanton auf diesen Trend mit einem neuen Lernprogramm gegen häusliche Gewalt.

 Er schlägt, sie weint, leidet still vor sich hin oder flüchtet. Das ist die klassische Rollenverteilung bei häuslicher Gewalt. Seit einigen wenigen Jahren zeichnet sich nun aber ein neuer Trend ab: Immer häufiger schlagen auch Frauen zu. Das zeigt sich auch im Baselbiet. Bei Hinweisen auf häusliche Gewalt stellte die Polizei dort zwischen 2005 und 2007 eine Zunahme der weiblichen Tatverdächtigen von 15 auf 20 Prozent fest. Gegen 35 Frauen wurde schliesslich ein Strafverfahren eröffnet. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in den übrigen Kantonen ab: 2007 wurden in der Schweiz 1300 Frauen wegen Körperverletzung bestraft – 122 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor.  Als erster Kanton reagiert Baselland nun auf diesen Trend: Seit Mai wird in Liestal ein Lernprogramm gegen häusliche Gewalt speziell für Frauen angeboten. Derzeit hat der Kurs vier Teilnehmerinnen, zwei kommen freiwillig, die beiden anderen wurden von einem Statthalteramt und einer Vormundschaftsbehörde zugewiesen. An 21 Kursabenden setzen sie sich mit ihren Aggressionen und den Folgen für ihr Umfeld auseinander.  Schlimm für Kinder. Ein wichtiges Thema sind dabei die Kinder. «Die Gewalt von Frauen richtet sich häufig auch gegen sie», sagt Christine von Salis, Co-Leiterin der Baselbieter Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Die Täterinnen sind überfordert; von der Arbeit im Haushalt und allenfalls noch auswärts, von den quängelnden Kindern und fordernden Jugendlichen. Sie fühlen sich alleingelassen und schlagen irgendwann auf die Kinder oder den Partner ein. Und die meisten tun es immer wieder. «Für Kinder ist das besonders schlimm. Sie werden traumatisiert, und ihre ganze seelische Entwicklung kann massiv beeinträchtigt werden», sagt von Salis.  Das soll mit dem Kurs verhindert werden. «Möglich ist das nur, wenn die Täterinnen ihr Verhalten reflektieren», sagt von Salis. Wie funktioniere ich? Wie kann ich in heiklen Momenten eine Eskalation verhindern? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Kursteilnehmerinnen. Dabei gibt es auch einfache Lösungen: Wegzugehen zum Beispiel ist viel besser, als die Kontrolle über sich zu verlieren.   Verletzende Worte. Ein ähnliches Programm wie jetzt für Frauen bieten die beiden Basel seit 2001 auch für Männer an – mit Erfolg, wie Christine von Salis sagt: «Die meisten Teilnehmer sehen im Laufe des Kurses ein, dass sie ihr Verhalten ändern müssen und das Opfer darunter gelitten hat.» Körperliche Gewalt üben sie in der Regel keine mehr aus. «Die Abwertungen und Respektlosigkeiten gehen nach Aussage der Opfer aber leider häufig weiter», sagt von Salis. Das ist ein Grund, warum sich Paare auch nach einem Kurs trennen. Von Salis kann das akzeptieren: «Es ist wichtiger, die Gewalt zu stoppen, als die Beziehung zu retten.»  www.interventionsstelle.bl.ch    «Frauen sind zu allem fähig»  

Neue Forschung. Die Frau als Gewalttäterin, der Mann als Opfer – das widerspricht dem klassischen Rollenbild. Darum waren gewalttätige Frauen lange ein Tabuthema, auch in der Forschung. Doch nun beginnen sich Wissenschaftler allmählich für das Phänomen zu interessieren. Abschliessende Erklärungen über die Zunahme der Frauengewalt gibt es allerdings noch nicht. «Auch Frauen sind zu allem fähig», stellte Franziska Lamott von der Forensischen Psychotherapie der Universität Ulm an einer Fachtagung in Wiesbaden lapidar fest, über die die «NZZ am Sonntag» berichtet hat. Auch die Emanzipation ist nach Ansicht von Lamott keine Erklärung für zunehmende Gewaltbereitschaft: «Die Emanzipation ist eher Folge als Ursache: Nur wenn die Frauen aggressiv sind, können sie sich auch emanzipieren.» Ebenfalls umstritten ist, in welchem Ausmass Frauengewalt tatsächlich zugenommen hat. Die Forscher führen die steigenden Werte nämlich auch darauf zurück, dass Männer inzwischen eher bereit sind, sich als Opfer zu outen, weil häusliche Gewalt allgemein zum Thema geworden ist. Fest steht dagegen, dass Gewalt häufig wechselseitig ist: Er schlägt sie, sie schlägt ihn. Ebenso bekannt ist, dass häufig auch die Täterinnen leiden − unter psychischen Krankheiten wie Wahnvorstellungen oder Depressionen. Vielfach hatten sie auch im eigenen Elternhaus Gewalt erfahren. Forscherinnen wie Lamott sind zudem überzeugt, dass Frauen aus einem anderen Grund gewalttätig werden als Männer: Sie wollen Distanz schaffen, Männer eher Macht demonstrieren und die Frau von einer drohenden Trennung abhalten. rock