(c) Tagesanzeiger vom 10. Mai 2010. Von Thomas Hasler

Ein Mann bat um Schutz vor der Ex-Freundin. Niemand hörte zu. Als er ausrastete, wurde er verhaftet. Jetzt hat ihn das Gericht rehabilitiert.

Wettswil – Den Glauben an die Medien dürfte er spätestens verloren haben, als er mit der Schlagzeile «Der durchgeknallteste Ex der Schweiz» zum «wild gewordenen» Schützen erklärt wurde. Den Glauben an staatliche Einrichtungen hat er schon vorher verloren. Tragisch ist: Das Gefühl, vom Staat im Stich gelassen worden zu sein, trifft zu. «Hier hätte einiges anders laufen müssen. Das ist kein Ruhmesblatt für die Justiz», sagte Reinhold Schätzle, Präsident der II. Strafkammer des Obergerichts.

Am 18. September 2008 hatte die 41-jährige Ex-Freundin das Grundstück in Wettswil betreten, auf dem sich das Einfamilienhaus des 44-jährigen Ingenieurs befand. Um die Frau von seinem Boden zu «verscheuchen», feuerte er aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock zwei Schüsse in den Abendhimmel. «Angsterfüllt», wie es in der Anklage heisst, flüchtete die 41-Jährige zu Nachbarn und alarmierte die Polizei. Sieben Stunden verhandelten Spezialisten mit dem Mann, der drohte, bei einem polizeilichen Zugriff die Waffe einzusetzen. Dann, morgens um drei Uhr, deponierte er die Pistole auf einem Fenstersims, trat ins Freie und liess sich widerstandslos festnehmen.

46 Tage sass der Mann in Untersuchungshaft. Dann wurde er wegen Nötigung angeklagt und vom Einzelrichter des Bezirksgerichts Affoltern zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 30 Franken verurteilt. Die Gerichts- und Untersuchungskosten von fast 20 000 Franken wurden ihm auferlegt, vorübergehend aber abgeschrieben. Der 44-Jährige habe zwar das Recht gehabt, sein Hausrecht zu schützen; doch die beiden Schüsse hätten «in keinem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck» gestanden. Er hätte, meinte der Einzelrichter, die Frau doch «von Angesicht zu Angesicht ersuchen können, das Grundstück zu verlassen».

Genau dies aber, dieses «von Angesicht zu Angesicht», war schlicht nicht möglich. Seit der Trennung im Jahre 2004 war es wiederholt zu schweren Konflikten gekommen. Nach monatelangen Belästigungen war die Frau schon früher einmal gewaltsam ins Haus eingedrungen. Anschliessend beschuldigte sie ihn, sie geschlagen, sexuell genötigt und vergewaltigt zu haben.

Der Ingenieur wurde von den Vorwürfen vollumfänglich freigesprochen. Auf seine Anzeige wegen falscher Anschuldigung gingen die Behörden aber nicht ein. Mehrfach wandte er sich an die Polizei, schrieb Briefe, erteilte der Frau ein Verbot, sein Grundstück zu betreten. Unter allen Umständen wollte er vermeiden, mit ihr in direkten Kontakt zu kommen. Zu gross war seine Angst, erneut zu Unrecht irgendeines Delikts beschuldigt zu werden.

Ihr Besuch löste Panik aus

Als die Frau vor jenem Septemberabend telefonisch ankündigte, sie wolle – vier Jahre nach der Trennung – eine Lesebrille holen, brach beim 44-Jährigen Panik aus. Er wandte sich ans Obergericht, weil er ein Kontaktverbot wollte. An jenem Abend verdunkelte er die Wohnung, liess an allen Fenstern die Rollläden herunter. Als die Frau dann tatsächlich auf dem Grundstück auftauchte, alarmierte er die Polizei. Doch die sah keinen Grund auszurücken. In der Hoffnung, die Frau vertreiben zu können, beschimpfte er sie heftig – ohne Erfolg. Er versuchte, sie mit einem Kübel Wasser zu vertreiben – ohne Erfolg. Als er keine andere Möglichkeit mehr sah, griff er zur Waffe – und schoss.

Das Obergericht, an das der 44-Jährige seine Verurteilung weiterzog, sprach ihn ohne Einschränkung frei. Er dürfe sich auf rechtfertigende Notwehr berufen. Nach der Vorgeschichte zwischen der «unglücklichen Paarung» habe er allen Grund gehabt, die Frau auf Distanz zu halten. Es sei nicht ersichtlich, welche Massnahme er sonst noch hätte ergreifen können. Er habe die Frau gewarnt. Zudem habe er sie mit den Schüssen nicht direkt bedroht, sondern nur erschreckt. Wären sich die beiden direkt begegnet, wäre «die Gefahr sehr gross» gewesen, dass er wieder falsch angeschuldigt worden wäre.

Das Gericht bezeichnete es als skandalös, dass seine diversen Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruchs, falscher Anschuldigung oder Telefonterrors unbeachtet geblieben seien. «Ich frage mich bloss, wie die Justiz reagiert hätte», meinte der Gerichtsvorsitzende, «wenn das Gleiche nicht einem Mann, sondern einer Frau passiert wäre.»

 

Kommentar des VeV

"Das ist kein Ruhemsblatt für die Justiz" sagt der Präsident der II. Strafkammer des Obergerichtes.

Und dann sagt er noch ganz am Schluss "Ich frage mich, wie die Justiz reagiert hätte, wenn das Gleiche nicht einem Mann, sondern einer Frau passiert wäre"

Gerichtspräsident Reinhold Schätzle verdient an dieser Stelle ein grosses Lob. Er hat richtig erkannt, dass die Justiz in diesem Fall, wie so häufig auf einem Auge blind war. Er hat es erkannt – und – er hat es korrigiert. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung.

Es wäre zu wünschen, dass vermehrt solche Entscheidungen getroffen würden. Dass der unverstellte Blick auf die Fakten die Entscheidungen leitet, statt häufig spürbarer Vorurteile und vorgefassten Meinungen.

Überall dort, wo sich die Frage des Richters "Was, wenn das Gleiche einer Frau passiert wäre" stellen lässt, muss auch diese Haltung eingenommen werden, dann wird unsere Justiz gerechter und unsere Gesellschaft ein wenig gleichberechtigter.