Nicole Althaus im Tagesanzeiger vom 29. Oktober 2009

Stellen Sie sich folgendes vor: Sie sind in den Ferien, irgendwo an einem hübschen See haben Sie ein Haus mit einer befreundeten Familie gemietet, Sie geniessen die letzten warmen Tage des Jahres, streifen mit den Kindern durch den Herbstwald, Sie machen Feuer und Fotos, darunter auch eins im Badezimmer, das die Kinder zeigt, wie sie nackt und ausgelassen in der Wanne spielen. Nach der Heimkehr bringen Sie ihren Memory-Stick in ein Fotogeschäft und lassen ausgewählte Bilder auf Fotopapier drucken. Ein paar Stunden später klingelt die Polizei, nimmt Sie fest und klagt Sie des sexuellen Missbrauchs an.

Genau das ist Lisa und Anthony Demaree aus Arizona letztes Jahr passiert. Sie wurden in der Folge freigesprochen, durften aber während der staatlichen Untersuchung des Missbrauchsvorwurfs ihre Kinder nicht sehen. Letzten Monat haben sie Klage erhoben, gegen das Geschäft, das sie wegen der sogenannt pornografischen Fotos in Verlegenheit gebracht hatte.

Bevor jetzt die Anti-Amerika-Fraktion  sich wieder über die unsittlichen Sittenvorstellungen der USA lustig macht und das Geschehene als abstruse Verirrung einer notorischen Klägernation abkanzelt, möchte ich Ihnen die Geschichte eines Schweizer Vaters erzählen, der unter anderem wegen Badewannenfotos  seine heute 9-jährige Tochter während zweier Jahre nur noch in Begleitung sehen durfte.  Eingebrockt hat ihm der Missbrauchvorwurf nicht ein Fotogeschäft sondern seine Frau. Kennengelernt habe ich den Vater, einen Programmierer, bei der Recherche zu einer Geschichte über das geteilte Sorgerecht. Seine Frau hatte den Verdacht auf Kindsmissbrauch vorgebracht, als sie sich bei den Unterhaltszahlungen nicht einigen konnten. Zwar überzeugten die Beweise den Richter nicht, aber Missbrauch ist ein Offizialdelikt, die Behörde muss eine Untersuchung einleiten. Sie gab ein Gutachten bei einem Kinderpsychologen in Auftrag, befragte das Umfeld des Vaters, schränkte sein Besuchsrecht ein und stellte es unter Begleitung. Heute sieht der Vater seine Tochter wieder regelmässig jedes zweite Wochenende und einzelne Ferienwochen, sämtliche Vorwürfe wurden entkräftet –  aber der Verdacht, der blieb an ihm kleben. Bis heute.

Ein solcher Missbrauch des Missbrauchs ist leider kein Einzelfall. Vor ein paar Jahren noch sprachen Zürcher Anwaltskreise von einer Zunahme des Vorwurfs in Scheidungsverfahren von 40 Prozent seit 1995. Seither ist der Umgang der Behörden vor allem in Städten und Agglomeration mit dem Missbrauchsvorwurf professionalisiert worden und der gefährliche Trend rückläufig, wie meine gestrige Recherche ergab. Aber er kommt immer noch vor. Denn der Missbrauchsvorwurf ist erbarmungslos effizient. Er stellt die Väter für längere Zeit auf Eis. Und er beeinflusst die Scheidungsverfahren. Die einzige Studie in diesem Bereich stammt aus Deutschland und ist leider bereits zehn Jahre alt. Aber deren Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Laut ihr sind 42 Prozent aller Missbrauchsvorwürfe in Sorgerechts- oder Umgangssfällen äusserst vage, 92 Prozent stellen sich als unbegründet heraus, sie beeinflussen aber in 42 Prozent aller untersuchten Fälle die Richter.

Die Sensibilisierung der Gesellschaft für Kindsmissbrauch und Pädophilie ist wichtig und richtig. Aber die  Kehrseite davon ist offenbar eine Tendenz, hinter jeder Ecke einen bösen Pädophilen zu vermuten. Das ist fatal. Nicht nur für betroffene Scheidungsväter oder Lehrer, sondern auch für tatsächliche Missbrauchsopfer. Und hat Folgen für alle Väter. Denn wer mit der Angst leben muss, seine Beziehung zu den eigenen Kindern, könnte eines Tages von Polizei, Psychologen und Richtern seziert werden, lebt in ständiger Selbstzensur. So jedenfalls schilderte mir ein befreundeter Vater seinen Körperkontakt zu seinem Dreikäsehoch. Ein Bad mit dem Kind? Ist ihm zu gefährlich. Seit er von der Mutter getrennt lebt, steigt er, wenn überhaupt, nur noch in der Badehose mit dem Töchterchen in die Wanne.  Ein anderer Vater gestand, dass er jeweils seine Freundin rufe, wenn das Töchterchen im Windelbereich wund sei und eingecremt werden müsse.

Sind wir vor lauter Sensibilisierung paranoid geworden?

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